Wenn die Seele den Körper berührt

 

Ossi Stock - der Kramsacher Karatedo-Lehrer als Pilger 

 

Samstag. Kurz vor sechs Uhr früh. Die meisten drehen sich noch einmal in den Federn um und träumen weiter. Nicht so er. Im Ofen knistert bereits das Holz. Warm ist es trotzdem noch nicht. Das Thermometer zeigt zehn Grad. Aber die Temperatur ist ideal für das, was er vor hat. Vor der Halle fahren die letzten Autos vor. Pünktlichkeit ist angesagt. In den weißen Keikogis wird Aufstellung genommen. „Onegai Shimasu“ - spätestens, wenn diese Worte durch die Halle klingen, sind alle hellwach.  

Tradition


Ossi Stock geht seiner großen Leidenschaft nach – Karatedo. Mit 20, nach seinen, wie er selbst sagt Flegeljahren, entdeckt er seine Liebe zu dem traditionellen japanischen Karatetraining. Es ist nicht das sonst so bekannte Kampfsportkarate, das sein Interesse weckt, vielmehr das traditionelle Karatedo. Seit 20 Jahren steht der leidenschaftliche Sportler jetzt schon dem Dojo Tirol vor und gibt seine Kenntnisse rund um das Karatedo weiter. „Dieses traditionelle japanische Karate ist ein Ganzkörpertraining, eine Körperschulung. Kampfsport ist etwas anderes, natürlich kann man sich mit den Techniken auch verteidigen, aber eigentlich ist es ein Gesundheitstraining, fast schon eine Bewegungsmeditation.“ Viele der Übungen sind alt, manche sind neu. Denn Karatedo ist nichts starres, es entwickelt sich laufend weiter. „Die Bewegungen tun dem Körper gut, das ist meine Medizin, meine Naturmedizin – den Körper richtig zu bewegen.“



Zuschauen gegen Multitasking


„Vor allem lernt man wieder richtig schauen – zuschauen. Du musst wieder aufmerksam sein.“ Und wirklich, eine der höchsten Anforderungen beim Training ist die Aufmerksamkeit. Das Prinzip klingt simpel: zuschauen, nachmachen, kopieren und erst danach verstehen. „Heute will jeder vorher wissen, wie es funktioniert und welche Bedeutung welche Übung hat. Hier geht es genau anders herum.“ Der Karatedo Schüler lernt seine Aufmerksamkeit wieder auf eine Sache zu richten. Ein schwieriges Unterfangen in der heutigen Zeit, in der alles auf einmal erledigt werden soll. Hunderte Gedanken, die gleichzeitig durch den Kopf schwirren. „Multitasking ist meiner Meinung nach bedenklich, da man zwar viele Dinge macht, aber nichts richtig. Und,“ so gesteht Ossi mit einem Schmunzeln, „ich bin auch so einer, ich versuche vieles gleichzeitig zu machen. Aber das Ergebnis ist selten perfekt.“ Und genau das, gilt es beim Karatedo zu durchbrechen. Nur wer seine ganze Konzentration und Aufmerksamkeit auf das Training legt, kann durch bloßes Zuschauen lernen.

Sportkarate hat ihn dabei nie interessiert. "Wenn man jung ist, ist es sicher toll. Aber ich finde es seltsam, wenn man sich vorher miteinander schlägt und dann gemeinsam etwas trinken geht. Das ist nicht meine Sache.“  

Wenn dich ein Land findet


Inzwischen trainiert er mehr als sein halbes Leben. Nach Japan, dem Ursprung seiner Leidenschaft Karatedo, hat es ihn trotzdem lange nicht gezogen, bis das Land zu ihm gekommen ist, in Form seiner heutigen Frau. Masako Stock ist Japanerin. Sie lernen sich bei einem Trainingslager kennen. Und mit ihr entsteht auch sein Interesse für Japan. Über 15 Mal war er seither in dem Land seiner Frau. Kulturschock inklusive. „Anfangs war es schon ein Schock, aber inzwischen habe ich die Menschen dort sehr schätzen gelernt. Sie sind den Tirolern doch sehr ähnlich. Zu Beginn zurückhaltend, aber wenn sie dich erst einmal in ihr Herz geschlossen haben, dann für immer.“ Doch nicht nur die Menschen, auch das Land verzaubert den Tiroler auf seine ganz eigene Art.

Einmal Pilgern bitte

Dort, bei der Familie seiner Frau, findet der Kramsacher seine zweite Leidenschaft. Die Großmutter von Masako gibt den Ausschlag. Sie und rund 1.200 Kilometer. Fasziniert hört Ossi von der Pilgerreise, die die Großmutter gemacht hat. Nicht irgendeine Pilgerreise. Die Pilgerreise auf dem ältesten Pilgerweg der Welt. Der Shikoku-Pilgerweg. Der buddhistische Weg auf der japanischen Insel Shikoku verbindet 88 Tempel und geht auf einen japanischen Heiligen, den buddhistischen Mönch Kükai (774 – 835) zurück. Er war einer der Gesandten, der nach China geschickt wurde. Als er zurückkehrte, brachte der Leonardo da Vinci der Japaner, wie ihn Ossi nennt, seinem Land den Buddhismus mit.


Sechs Monate hat die Großmutter für den Weg gebraucht. „Als ich das hörte, habe ich mir gedacht, das schaffe ich locker als Tiroler und Wanderführer. Aber der erste Versuch scheiterte – aus Geldmangel. Ying, Yang und Yen liegen recht nahe beisammen. Und auch pilgern kostet Geld.“ Allerdings hat diese eine erste Pilgerreise in Ossi Stock eine Leidenschaft entfacht. „Als ich dort oben am Berg saß und hinunter schaute, dachte ich bei mir nur eines. Da muss ich noch einmal her und das Ganze richtig machen.“ Inzwischen hat er die Runde bereits viermal zu Fuß bewältigt. Auch mit seiner Frau und seinen Kindern war er unterwegs, da allerdings mit dem Auto.  

88 Tempel gegen den Stress


Wobei, und darauf legt er Wert, es ist keine Flucht vor dem Alltag ist. Es ist eher eine Erholungszeit. Seine ganz persönliche Kraftquelle, bei der er sich Energie für den Alltag holt und den Stresspegel gefühlt für ein Jahr absenkt. „Ich habe während dem Gehen viele Ideen. Der Pilgerweg ist wie ein Jungbrunnen für mich.“ Und er schreibt sein ganz persönliches Buch über seine Reise zu den 88 Tempeln.


Die Insel selbst ist recht bergig. Die Wege zwischen den 88 Tempeln sind zum Teil extrem steil. Stufen sind an der Tagesordnung. Die starken Regenfälle würden jeden anderen Weg wegwaschen. 1.000 Höhenmeter in Form von Stufen zu überwinden, stellen aber auch besondere Anforderungen dar. Muskelkater inklusive. Auch für den sonst so sportlichen Tiroler sind die Stufen eine Herausforderung. Genauso wie der Regen. Es regnet sehr oft und meist sintflutartig. „Innerhalb kürzester Zeit ist alles nass, was du auf der Haut trägst. Aber letztlich ist dir das beim Pilgern egal.“

Die Woche der Entscheidung


Die meisten Pilger sind Japaner, aber auch einige Ausländer sind unterwegs. Immer mehr junge Menschen nutzen die Zeit in Japan zwischen Studium und dem Einstieg in die Berufswelt, um Energie zu tanken. Aber auch um sich klar zu werden über das, was sie wirklich wollen. Ossi trifft viele Pilger und sieht viele aufgeben. Ob er selbst ans Aufgeben gedacht hat? „Manchmal schon. 30 bis 50 Kilometer am Tag zu gehen mit schwerem Gepäck und das über 30 bis 35 Tage hinweg ist einfach nicht normal. Die richtige Ausrüstung und Glück gehören dazu.“ Und vor allem merkt er schnell, man kann nicht gegen den Körper gehen, man muss mit dem Körper gehen. Der Wille allein genügt nicht. Wille und Körper müssen ein Team sein. „Natürlich sollte man vorher trainieren, doch wer hat schon Zeit dafür. Meine Grundkondition ist durch mein Karatedo-Training Gott sei Dank sehr gut.“ Und es gibt eine Grundregel. „Nach einer Woche Gehen bist du entweder fit oder du steigst aus.“



Den Strapazen sei dank


Ob ihn die körperlichen Strapazen nie abgeschreckt haben? Vor allem, nachdem er bereits einmal die Pilgerreise hinter sich hatte und damit wusste was auf ihn zukommt. Es ist das erste Mal, dass Ossi nicht sofort auf eine Frage antwortet. Bevor er nachdenklich meint: „Das ist eine gute Frage.“ In Japan, so erklärt er, heißt es der Körper braucht drei Jahre, bis er die Strapazen vergessen hat. „Bei mir ist jedes Mal wieder diese Sehnsucht da, nach dieser geistigen und seelischen Ruhe. Nach diesem einen tollen Gefühl. Das ist wie bei manchen, die jahrelang reiten und dann auf einmal das Gefühl haben eins mit dem Pferd zu sein. Oder auch beim Skifahren, wenn der perfekte Schwung gelingt. Und genau so ähnlich ist es bei mir mit dem Pilgern.“ Eins zu sein mit dem Universum, das ist es, was ihn antreibt. „Wenn mich der Wind beutelt, die Sonne aufbrennt, ich den Ozean höre und vom Regen platschnass bin, dann habe ich das Gefühl mit dem Land eins zu sein.“ Und genau dieses Gefühl ist es, für das er all die Strapazen auf sich nimmt. Wobei er jetzt auch Teilabschnitte genießt. So wie heuer.

Im kommenden Herbst will er einzelne Teile des Weges mit Freunden gehen. Doch auch, wenn er mit anderen unterwegs ist, ist jeder für sich allein. Nicht immer ist er, wenn er mit Freunden unterwegs ist, mit ihnen zusammen. Jeder geht seinen Weg, sein Tempo. Oft ist einer einen Kilometer voraus. Freiräume müssen sein. Genauso wie der Erfahrungsaustausch in den Unterkünften nach einem Tag voller Schritte. „Ich genieße das allein sein sehr. Allerdings, ist es auch wunderbar, sich mit jemanden austauschen zu können, Ausblicke und Augenblicke gemeinsam zu genießen.“

Eine der häufigsten Fragen, die ihm Interessierte stellen: „Woran denkst du beim Gehen?“ Seine Antwort überrascht und ist doch so grundlegend. „An vieles und nichts.“ Im Kopf geht bewusst gar nichts vor. Die Gedanken kommen und gehen und man beschäftigt sich mit einfachen Grundbedürfnissen. Was muss ich machen, um gesund zu bleiben, was esse ich heute, wo schlafe ich, finde ich morgen den Weg? Es ist eine Schritt für Schritt Bewältigung. Und das Gefühl unerreichbar zu sein. Diese Fokussierung ist es auch, die er immer wieder mit nach Tirol zurück nimmt. Eine Fokussierung, die dem Multitasking entgegenwirkt und unweigerlich an seine andere Leidenschaft das Karatedo denken lässt.


Schlangenalarm – Hallo Japan

Auch das Gespür für die Natur und die wiedererwachten Instinkte nimmt er mit in seine Heimat. „Es ist eine Art Überlebenstraining für den Alltag.“ Die Verbindung zum Weg bleibt, auch wieder zurück in Tirol. Spätestens bei der nächsten Warteschlange. „Wenn ich irgendwo warten muss, mache ich mein gedankliches Fenster nach Shikoku auf und spring hinein. Ich bin dann einfach weg und mich schubst höchstens der hinter mir, um mir zu sagen, dass es weiter geht.“

Wie es denn mit dem Jakobsweg wäre? Ossi lacht. „Den mache ich, wenn ich alt bin und nicht mehr so weit weg fahren will.“ Noch faszinieren ihn zu sehr der Weg und seine 88 Tempel.  

Traum die Zweite - 3.000 Höhenmeter, 21 Kilometer, 4,5 Stunden


Nächstes Jahr möchte er wieder seine Batterien aufladen und neue Ideen sammeln; auf dem Pilgerweg. Allein. Zu Fuß. Über 1.200 Kilometer. „30 Tage und 30 Nächte nur für mich, außer...“ Ja, außer er bekommt die Zulassung für einen anderen Traum. Ein Traum, der mit der Wiederbelebung seines Laufclubs Sport Ossi zusammen hängt. Nach 20 Jahren hat der Sportler seinen Laufclub wieder ins Leben zurückgeholt. Einmal die Woche wird gemeinsam gelaufen, das große Ziel heuer, der Großglocknerlauf. Eine Kleinigkeit, wenn man so will im Gegensatz zu dem Traum, den sich Ossi im nächsten Jahr erfüllen will. Seine Augen glänzen als er davon erzählt. Ein jungenhaftes Lachen umspielt seine Mundwinkel. 3.000 Höhenmeter und 21 Kilometer. Das Fuji Mountain Race. Einer der schwierigsten Bergläufe der Welt. Nur 40 Prozent der Teilnehmer erreichen das Ziel. Denn die Vorgaben sind strikt. Die Maximalzeit für den Lauf sind viereinhalb Stunden, der Streckenrekord liegt bei zwei Stunden 27 Minuten. Nur 40 Startplätze gibt es für Ausländer. Also heißt es für Ossi hoffen und wenn es doch nichts wird mit dem Extremberglauf, warten ja 88 Tempel und über 1.200 Kilometer auf ihn. Samt vielen Bekanntschaften in Shikoku, die auch schon zu Freundschaften wurden.


Fotos: Ossi Stock

Text: Adriane Gamper

Text erschienen in: Besser Leben

 

 

 

Danke für´s Teilen meines Textes. 

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