Vom Übergewicht zum Backbuch

Bettina Ager: 60 Kilogramm  Übergewicht als Ausgangspunkt für eine etwas andere Erfolgsgeschichte


Noch einmal dick sein, bitte

Die Zitrone hat den Boden von Bettinas Glas erreicht. Die Sonne ist untergegangen. Bettinas Gesicht hat immer noch dieses ganz spezielle Strahlen. Ob sie eine Erfolgsfrau ist? Ich würde ja sagen, aber nicht wegen ihrer Erfolge mit ihren Backbüchern oder ihren Yogakursen. Nein, vielmehr wegen ihrer Art, ihren Weg zu gehen. Und vor allem wegen dem, was sie zum Schluss sagt: „Ich bin dankbar für das, was war. Es war gut, dass ich Übergewicht hatte, dass ich gemobbt wurde, so habe ich meinen Weg gefunden, um dankbar zu sein, um alles zu schätzen. Wenn alles geradeaus geht, schätzt man es nicht. Es muss immer mehr sein, nichts ist genug. Ich seh das so oft. Natürlich hätte ich nicht 10 Jahre gemobbt werden müssen und so viel Übergewicht hätte auch nicht sein müssen, aber ich bin dankbar dafür.“ Eine Einstellung mit Seltenheitswert. Vor allem als sie sagt, dass sie, wenn sie noch einmal auf die Welt kommen würde und sich entscheiden dürfte, noch einmal alles so haben wollen würde.

 



Wie alles begann

 

Eineinhalb Stunden vorher. Es ist Abend. Die Hitze des Tages legt sich langsam. Auf der Terrasse des Restaurants ist nicht viel los. Bettina Ager sitzt mir gegenüber. Vor ihr ein Mineralwasser. Oben auf schwimmt eine Zitronenscheibe. Gesprächsthema: Bettina´s Backbücher. Eigentlich. Bis zu dem Moment, wo ich frage, wieso sie angefangen hat, Backbücher zu schreiben.

 

Ananas & Kokos auf der Alm

Wer Bettina beim Sport erlebt, der merkt, dass das nicht nur ein Hobby, sondern viel mehr eine Leidenschaft ist. Sie bewegt sich gerne, und viel. Es gibt fast keinen Tag ohne Sport. Heute war sie, wie sie erzählt, schon um vier Uhr auf, um in die Berge zu gehen. Und dort draußen in der Natur, in den Bergen, wenn sie allein ist, entstehen ihre Rezepte. „Mich inspiriert die Natur. Wie letztens als es so heiß war, da hab ich mir gedacht, jetzt wäre was mit Kokos und Ananas gut. Aber da ich nach Möglichkeit heimischer Produkte verwende, überlege ich mir, wie ich den Geschmack mit Produkten von uns bekommen könnte.“ Wieder zurück aus den Bergen, schreibt sie die Rezepte, die in ihrem Kopf entstanden sind auf, probiert sie aus, verfeinert sie.


Übergewicht, die Spitze des Eisberges

Ihr erstes Backbuch schreibt sie 2006. Auf die Frage wieso, wird Bettina kurz ruhig. Ihr Blick ist nachdenklich und doch ist da auch eine große Portion Stolz zu sehen. „Es war für mich ein Weg. Weil ich sehr übergewichtig war.“ Und das sind die Sätze, die alles in ein neues Licht rücken. Die Spitze eines Eisberges. Die Spitze von 130 Kilogramm.  



 

„Ich war zu Hause und habe gegessen, aus Langeweile.

Nur noch gegessen.“

 

 

130 Kilogramm

Bettina´s „dicker Weg“ beginnt als Kind. „Ich bin erblich vorbelastet, aber das ist nicht der Hauptgrund, dass ich lange Zeit so übergewichtig war. Ich habe als Kind zugenommen und dann war das wie eine Spirale.“ Kinder sind direkt. Und können auch gemein sein. Als Bettina beginnt dicker zu werden, spielen die anderen nicht mehr mit ihr. „Ich war zu Hause und habe gegessen, aus Langeweile. Nur noch gegessen.“ Bettina lebt mit ihrem Übergewicht und den Hänseleien. Der Wendepunkt. Ihre Firmung. Sie findet nichts Passendes zum Anziehen. Es macht zum ersten Mal Klick.

 

Achtung! Zurücktreten! Der Zug fährt ab

In der Ferrarischule wird sie gemobbt. In den Sommerferien arbeitet sie in der Schwimmbadkantine, darf alles essen was sie will. „Da habe ich mir gedacht, wenn du das jetzt nicht schaffst, ist der Zug abgefahren.“ Und der Zug fährt ab. Allerdings mit ihr als Lokführer und in die Richtung, die sie bestimmt. Sie nimmt ihr Leben und ihren Körper in die Hand. Beginnt abzunehmen. Ein steiniger Weg. Ein Weg, der sie aus heutiger Sicht immer begleiten wird. Als absoluter Diätgegner abzunehmen ist nicht einfach. Sie fängt an, das Abendessen auszulassen und nicht mehr nebenbei zu essen. „Eine harte Zeit. Ich habe nächtelang nicht geschlafen; vor Hunger. Ich habe oft geweint. Aber auf einmal sind da Erlebnisse und Gefühle, die kannst du nicht beschreiben – wenn plötzlich jemand fragt, ob du abgenommen hast.“ Mit ihrem Höchstgewicht von 130 Kilogramm ist sporteln nicht möglich. Umso größer das Hochgefühl, als auf einmal wieder etwas geht. „Ein Wahnsinns-Feeling. Ich kann das jedem nur ans Herz legen. Man muss halt so abnehmen, dass man noch normal leben kann.“ 

 

 

 

Ich spreche aus Erfahrung, das Übergewicht

kommt bei den meisten nicht von ungefähr. Nur ein geringer

Prozentsatz ist aufgrund einer Erkrankung dick. Für die meisten gilt: ein leerer Sack steht nicht. Nur keiner will es sich eingestehen.“

 

 

 

Kuchenmarathon

Normal leben. Für sie gehört dazu auch Kuchen. Ihre Versuchskuchen gelingen meist bereits beim ersten Mal. Und doch feilt sie daran herum, bis sie für sie perfekt sind. Vor allem, wenn ein neues Buch ansteht, macht die Sekretärin schon einmal fünf Torten an einem Sonntag. Nur dann hat sie genügend Zeit. Die Kuchen bekommen dann ihre Testesser. Bewohner des Altersheims in ihrer Nähe, Kinder von der Bubenburg und das Caritaszentrum in Uderns. „Letztlich ist es ein Gegengeschäft. Sie bekommen die Kuchen, ich die Kritik. Vor allem behinderte Menschen sind ehrlich. Wenn einer sagt, ich habe fast keine Äpfel abbekommen, dann weiß ich, dass ich mehr Äpfel hinein geben muss.“ Es ist auch schon passiert, dass eine Torte aus dem Buchkonzept rausgeflogen ist, weil zwei, drei sagten, „die ist grausig.“ Bettina lacht. „Ich habe nicht gewusst, was ich ändern sollte oder könnte und ganz ehrlich, ich war auch nicht zu 100 Prozent von der Torte überzeugt.“ Bettinas Augen strahlen, wenn sie von ihren Büchern spricht. Und gleichzeitig ist unverkennbar der Ernst, den sie in diese Sache mit einbringt. Es ist ein Stück ihrer Abhängigkeit.


Abnehmen mit Buchteln & Kasspatzln? Ja!

Die Kilos purzeln, doch nach 30 Kilo ist stopp. Nichts geht mehr. Ein ganzes Jahr lang. Sie nimmt sogar wieder zu. Doch sie ist eine Kämpferin und ihr wird eines klar. „Ich habe meinen Körper jahrelang geschändet. Irgendwann habe ich verstanden, dass mein Körper mit mir beleidigt ist. Wir, ich sage bewusst wir, wir hatten wilde Kämpfe, mein Körper und ich.“ Als gar nichts mehr geht, wendet sie sich an einen Ernährungsberater. Seine erste Frage: „Bettina, was isst du gerne.“ „Ich habe mir gedacht, der ist gut, ich will abnehmen und dann so eine Frage.“ Buchteln mit Vanillesauce, Marillenknödel, Kasspatzln – nicht gerade kalorienarm. Aber genau das, was sie gerne mag und auch heute noch isst. Denn ihr Abnehmerfolg hängt vom Nicht-Verbot ab. Jahrelang war sie in ernährungspsychologischer Beratung und beim Ernährungsberater und hat gelernt, Verbote gibt es nicht. Alles mit Maß und Ziel auch ihre geliebten Buchteln & Co. „Aber nicht fettreduziert, ohne Zucker oder mit Vollkornmehl. Wenn ich mir so etwas gönne, dann richtig und mit viel Genuss.“


 

 

 

Ja, es ist wie bei einem ehemaligen Alkoholiker.

Essen geistert immer in meinem Kopf herum.“


 

 

Trockene Übergewichtige

Als Bettina erzählt, dass ihre Gedanken auch heute noch permanent um das Essen kreisen, kommt unwillkürlich der Gedanke auf, ob ihre Situation mit einem trockenen Alkoholiker vergleichbar ist. Kann man so etwas in einem Interview fragen? Sind die Bücher ihre Art der Therapie? Bettinas Mundwinkel zucken leicht, ob der Fragen, um sich zu einem Schmunzeln zu verziehen. Sie wiegt ihren Kopf hin und her, trinkt einen Schluck von ihrem Mineralwasser. Die Zitrone im Glas schwappt hin und her. Im Wasser brechen sich die Sonnenstrahlen. Bettinas Blick wird ernst. „Es ist schon ein Rad. Ich steh ständig unter Strom. Ich beschäftige mich bewusst sehr viel mit Essen. Und ja, ich trau mich das auch zu sagen, es ist schon noch da.“ Es gibt Tage, da läuft alles aus dem Ruder. Die Kontrolle geht verloren. Zwei bis drei Kilo mehr auf der Waage. Der Kopf blockiert. „Dann geh ich zu meinem Ernährungsberater. Zwei Gespräche und es passt wieder. Ja, es ist wie bei einem ehemaligen Alkoholiker. Essen geistert immer in meinem Kopf herum.“ Fünf Backbücher, das Ergebnis der permanenten Beschäftigung mit Essen. Die Bücher als Therapie. „Wenn du dick bist, wirst du gemobbt, hast kaum oder keine Freunde. Du brauchst etwas, um dich zu beweisen und das war bei mir mit Sicherheit mein erstes Buch.“





Keksalarm

Wer glaubt, dass Bettinas Kuchen keinen Zucker enthalten, oder weniger Fett als andere Kuchen, der irrt. „Ganz im Gegenteil, meine Kuchen sind so, dass ich mit einem Stück genug habe. Und ich esse halt nicht mehr jeden Tag einen Kuchen.“ Kein Kuchen mehr im Vorbeigehen. Kein schnell herunter gebrochenes Stückchen, das in den Mund wandert. Wenn dann richtig. Im sitzen und mit einem Kaffee. „Immer wieder ein kleines Stück Schokolade, wird am Ende des Tages auch zu einer ganzen Tafel.“ Inzwischen ist das fünfte Buch kurz vor dem Erscheinen. Nach Kuchen, Torten, Kleingebäck und Brot geht es dieses Mal um Weihnachten. Kekse, Stollen und Co. Genau die Zeit, die für alle ein Angriff auf die Figur ist. Bettina lacht. Aber da ist auch ein leicht ärgerlicher Zug. „Die pure Ausrede. Zu Weihnachten nimmt man vielleicht zwei Kilo zu. Aber da muss man halt dann einfach mehr sporteln oder eine Mahlzeit auslassen. Niemand ist dick, weil er Weihnachten zu viel gegessen hat.“ Ob sie denn ihre Kekse und Torten nicht verführen. „Mich glustet schon ein Kuchen, wenn ich einen im Kopf habe, aber ich bin sehr konsequent. Ich fordere mich sicher mit jedem Kuchen heraus. Aber ich teste oft meine Grenzen: beim Arbeiten, beim Sport und vor allem beim Essen.“


 

Unflexibel zur schlanken Linie

Auf der Terrasse hinter uns, fangen die Restaurantgäste zu essen an. Bettina schüttelt plötzlich den Kopf. Fast etwas entschuldigend ist ihr Blick. „Ich bin ein sehr unflexibler Mensch. Mich kann man nicht einfach am Nachmittag anrufen und sagen, hey gehen wir am Abend Pizza essen. Wenn ich weiß, dass ich am Abend Pizza essen gehe, dann esse ich untertags weniger.“ Disziplin hoch drei. Einen Ausflug zu machen, ohne genau zu wissen, wann gegessen wird, für sie unmöglich. Auch heute noch lässt sie bis zu zweimal die Woche das Abendessen aus. Hört sehr auf ihren Körper, auf das, was er ihr sagt. Und wenn sie mal mehr isst, dann wird auch mehr gesportelt. Eine Tatsache, die ihr fast zum Verhängnis wurde.

 

 

 

Immer wieder ein kleines Stück Schokolade,

wird am Ende des Tages auch zu einer ganzen Tafel.“

 

 

 

Sportsucht

Heute gibt Bettina Yoga-Kurse. Fast jeden Tag. Aber Yoga ist nicht nur eine ihrer großen Leidenschaften, Yoga hat sie gerettet. Gerettet vor ihrer Sportsucht. Je weniger sie wiegt, desto mehr bewegt sie sich. Bettina läuft. Mit den Jahren immer mehr. Irgendwann ist es soweit, dass sie in der Nacht aufsteht und laufen geht. Am nächsten Tag weiß sie nichts mehr davon. Nur ihre Sportsachen verraten ihr, ihre nächtlichen Aktivitäten. „Lange Zeit habe ich das Ausmaß nicht erkannt. Bis mir untertags die Kraft ausgegangen ist, weil ich viel zu wenig geschlafen habe.“ Sie erzählt ihrem Hausarzt davon. „Er hat nur gesagt, Bettina, du musst etwas anderes machen. Aber ich weiß, dass du es nicht lassen kannst, mach Yoga dazu. Ich habe mir nur gedacht, Yoga, da schnaufen sie doch nur. Da nehme ich nichts ab.“ Sie probiert es trotzdem und findet ihren Ruhepol. Die Sportsucht verschwindet. Als nach fünf Jahren der Yoga-Trainer ausfällt, springt sie ein. Auf Wunsch der anderen Kursteilnehmer. Anfänglich zögerlich, um dann ihre zweite Berufung neben dem Backen zu entdecken.


Kein Dicker fühlt sich wirklich wohl

Während Bettina erzählt, nimmt sie einen Schluck von ihrem Mineralwasser. Heute sind sie gute Freunde, Bettina und ihr Körper. Nach zehn Jahren waren 60 Kilo weg und dieses neue Gewicht hält sich schon über Jahre. Aber sie passt immer noch auf. „Ich spreche aus Erfahrung, das Übergewicht kommt bei den meisten nicht von ungefähr. Nur ein geringer Prozentsatz ist aufgrund einer Erkrankung dick. Für die meisten gilt: ein leerer Sack steht nicht. Nur keiner will es sich eingestehen.“ Auf die Frage was sie anderen rät, wird Bettinas Gesichtsausdruck leicht ärgerlich. Energisch fährt sie sich mit der Hand durch die Haare. „Ich werde aggressiv, wenn jemand mit Übergewicht, ich spreche da von 30 Kilo oder so, zu mir sagt: Aber ich esse ja so gerne. Das ist die klassische Ausrede. Dann sag ich immer: Ich esse auch gerne.“ Auch sie hat sich selbst über Jahre belogen, sich eingeredet, dass sie sich so wohl fühlt. „Aber das kann mir niemand erzählen. Ich weiß wie es ist, wenn du dich die Treppen rauf quälst, oder dir im Sommer der Schweiß zwischen den Hautfalten steht. Natürlich ist es hart abzunehmen. Und es dauert. Aber hinauf gefressen hat man die Kilos ja auch nicht in einer Woche.“ Stundenlang redet sie oft mir ihrer Freundin über das Essen. Und Bettina weiß. Auch dünne Menschen müssen ständig auf ihr Gewicht schauen. „Nur keiner will das zugeben.“

Ihr Tipp: Sofort starten. Nicht erst morgen. Und so abnehmen, dass man

noch normal Leben kann. Denn Kuchen und Kekse gehören

zum Leben einfach dazu

 

erschienen in: Besser Leben

Foto: Bettina Ager

 



 

 

 

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