Eine Leidenschaft die aus dem Takt kam und zur großen Liebe wurde.
Wie zum Beweis streckt sie ihre Arme auf die Seite. „Du gehst immer bis ans Ende der Bewegung siehst du.“ Ihre Haare hat sie nach hinten gebunden. Jogginghose. Shirt. Freizeitlook. Vor ihr am Küchentisch steht ein Cappuccino. Ihre Hände scheinen immer noch weiter auf die Seite zu wachsen. Ihre Finger sind gestreckt, bis in die Spitzen. Mit einem Lachen lässt Selina Lettenbichler die Hände wieder sinken. Am Nachmittag steht ein Tanzworkshop an. Die Vorfreude ist unverkennbar. Heute. Vor drei Jahren war das anders. Die Tänzerin hatte alles hingeschmissen. Den perfekten Ausbildungsplatz aufgegeben für den sie so gekämpft hatte. Ein Entschluss mitten in einer Yogastunde.
Erkenntnis im Vorbeigehen
Als Jugendliche lebt Selina mit ihren Eltern in Tirol. Ihr Leben gehört dem Wettkampf. Sportaerobic. Fünf- bis sechsmal die Woche Training. „Ich war schon immer dieser Krafttyp, wollte mich austesten, Wettkämpfe machen, auch wenn ich vor Nervosität fast gestorben bin.“ Mit 16 zieht ihre Familie nach Oberaudorf. Für Selina nach sechs Jahren der Ausstieg aus der Sportaerobicwelt. „Ich war nicht richtig traurig darüber. Es war eine wunderschöne Zeit, aber du siehst auch nichts anderes, du bist in dieser Leistungssportsucht.“ Dass ihr Leben der Sport ist, ist ihr allerdings klar. Sie geht nach München in die Bode Schule, beginnt die Gymnastiklehrerausbildung. Und dort passiert es. „Wir hatten viele Tanzbereiche in der Ausbildung und plötzlich wurde mir klar, das ist es. Diese weichen Bewegungen, dieser Ausdruck. Ich wusste, das will ich machen.“
Das Ende auf dem Weg zum Gipfel
Von da an scheint ihr Weg nur noch eine Richtung zu kennen. Neben ihrer Gymnastiklehrerausbildung trainiert sie ein Jahr lang mit einer Freundin in verschiedenen Tanzkursen. Sie bewirbt sich bei drei Schulen für zeitgenössischen Bühnentanz. „Eine davon war die Sead, die Salzburg Experimental Academy of Dance. Die Tanzschule schlechthin. Auf der ganzen Welt finden Castings für diese Schule statt. Hunderte bewerben sich jedes Jahr.“ Selinas größter Wunsch erfüllt sich, sie wird aufgenommen. „Ich bin komplett ausgeflippt vor Freude.“ Sie schreibt ihr Staatsexamen für die Gymnastiklehrerausbildung fertig, beginnt gleichzeitig in der Sead. Eine äußerst strikte Schule. Permanentes Training. „Ich war dort, wo ich hinwollte und doch ging es mir immer schlechter. Mein Körper war müde. Ein Staatsexamen schreibst du nicht im Vorbeigehen. Mir hat eine Auszeit gefehlt.“ Selina beginnt zu zweifeln, ob das wirklich ihr Leben ist. Und dann kommt diese Yogastunde. „Ich habe darüber bis jetzt noch nie nachgedacht. Aber eigentlich ist es ein schöner Zeitpunkt, beim Yoga so einen Entschluss zu fassen.“ Es ist der Entschluss, alles hinzuschmeißen. Die Tanzschule zu verlassen. Nach dem Ende der Yogastunde geht sie zur Schulleitung.
„In Neuseeland habe ich das Tanzen für mich wieder gefunden.
Da wurde mir klar, das ist es.“
Auf die andere Seite der Welt
Innerhalb nur einer Woche gibt die damals 20jährige ihre Wohnung auf, verlässt Salzburg. „Ich war mir nicht mehr sicher was ich will. Was ich brauche. Für mich.“ Als ihr bester Freund ihr erzählt, dass er nach Neuseeland fliegt, sagt sie aus einem Impuls heraus. „Ich komme mit.“ Ein Monat später sitzt sie im Flugzeug. „Wir sind zusammen durch das Land gereist. Ich war mir nicht sicher wie es weitergehen soll. Und vor allem war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch tanzen will.“ Bis sie in das einsame Hostel kommt.
Der Tanz in Neuseeland
Selina rückt den Cappuccino zurück und reckt ihre Hände auf die Seite als wollte sie die ganze Welt umarmen. „Es hat erst schleichend angefangen. Ich habe dort in Neuseeland plötzlich gespürt und gesehen, dass alles tanzt. Die ganze Welt. Die Blätter im Wind. Jeder Schritt ist ein Tanz. Und dann waren wir in diesem Hostel. Wir waren die einzigen Gäste.“ Sie macht eine Pause, als wollte sie den Moment noch einmal auskosten. „Ich war allein. Und ich habe das gemacht, was ich seit Salzburg nicht mehr gemacht habe.“ Sie tanzt. Nur für sich. „Als ich zu tanzen begann, war ich plötzlich so voller Energie. Ich habe die Schwingungen in mir gespürt. Meinen Körper gefühlt. In dem Augenblick war ich mir sicher, dass Salzburg kein Abbruch war, sondern nur der Beginn einer Pause. Es war wie in einer Beziehung. Der Tanz und ich wir haben einfach eine Auszeit gebraucht. Aber als ich dort nur für mich getanzt habe, wurde mir klar, dass wir uns lieben, der Tanz und ich.“ Zurück von Neuseeland meldet sie sich bei einer anderen Tanzschule, die sie ein halbes Jahr zuvor bereits aufnehmen wollte. „Diese Schule war kleiner, familiärer, das war es, was ich brauchte.“
„Natürlich ist es wichtig, dass du von deinem Beruf leben kannst.
Aber man muss dem Leben auch einmal vertrauen.“
Leidenschaft mit bitterem Beigeschmack
Seit einem Jahr hat sie ihre Ausbildung zur zeitgenössischen Bühnentänzerin abgeschlossen, wurde inzwischen unter anderem für Produktionen in London, Paris, Wien, Deutschland und Slowenien zum Vortanzen eingeladen. Anfang August endete ihr Engagement für die Tiroler Festspiele Erl. Ein Monat Proben. Zwei Aufführungen. Ihr bisher tollster Auftrag wie sie sagt. „Es war alles perfekt. Sehr professionell.“ In München tanzt sie derzeit in einem Bollywood Musical. Was danach kommt, ist offen. „Ich lebe momentan ein echtes Künstlerleben. Ein traumhaftes Leben allerdings immer mit leichten Sorgen im Hintergrund.“ Jedes Ende eines Engagements hat einen traurigen Beigeschmack. „Du hast keine Absicherung. Musst dir immer neue Jobs suchen. Das zehrt manchmal schon an den Nerven, diese Ungewissheit.“ Ein letzter Schluck Cappuccino. Und wieder dieses strahlende Lachen. „Wenn ich Fremden sage, was ich mache, sagen sie immer das ist toll, spannend. Und dann kommt meist die Frage `kann man davon leben.´ Natürlich ist es wichtig, dass man davon leben kann. Mein Ziel ist sicher eine fixe Anstellung bei einem Theater. Aber mir geht es nicht um ein tolles Auto oder ein großes Haus, es gibt Wichtigeres. Ich mache lieber das, was mir Spaß macht und verdiene nicht so viel. Auch eine kleine Wohnung kann schön sein.“ Mit einem Glitzern in den Augen wirft sie ihren Kopf in den Nacken. „Ja, ich war schon mutig, mich für diesen Weg zu entscheiden. Vor allem damals, als ich aufgegeben habe. Diese Verantwortung für mich übernommen habe. Das war notwendig, um mich zu finden. Um richtig zum Tanz zu finden. Es ist entscheidend, dem Leben zu vertrauen.“
Foto: VANMEY PHOTOGRAPHY
Text: Adriane Gamper
erschienen in: kufsteinerin - das Magazin
Texte werden erst lebendig, wenn sie gelesen werden, deshalb:
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